Dreimal letzter Wille – Wallrafs Testamente im Resümee

Elisabeth Schläwe / Sebastian Schlinkheider

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Über einen Zeitraum von 35 Jahren bemühte sich Wallraf dreimal darum, seinen Nachlass zu regeln. Im Vergleich zu den Versionen von 1816 und 1818 scheint sein erstes Testament aus dem Jahr 1783 ein wenig aus dem Rahmen zu fallen. Es handelt sich um ein geradezu „über-formales“, knapp zweiseitiges Dokument, das Wallraf im recht jungen Alter von 34 Jahren abgefasst hat. Von einer Sammlung – später eindeutig im Mittelpunkt des Interesses – ist keine Rede. Dennoch spiegeln die Akten, die zu diesem letzten Willen überliefert sind, bereits die Persönlichkeit Wallrafs wider, die immer wieder in seinen Schriftzeugnissen aufscheint. Die diversen Versionen und Überarbeitungen des Testamentstextes, bis dieser schließlich den hohen Ansprüchen seines Urhebers genügte, finden sich auch bei zahlreichen anderen von Wallraf verfassten Texten.[1]

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Zudem weist das erste Testament im Hinblick auf seinen Entstehungszusammenhang Parallelen zum zweiten Exemplar auf. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nämlich, dass sowohl der Wille von 1783 als auch der Wille des Jahres 1816 aus Anlass einer Reise zu Papier gebracht worden sind. 1783 reiste Wallraf nach Süddeutschland, 1816 besuchte er Frankfurt und Göttingen. Bevor er seine Heimatstadt verließ, wollte er seine Angelegenheiten geregelt wissen – sicher aus Sorge, es könne ihm etwas zustoßen, wie im zweiten Testament sogar ausdrücklich mit der Formulierung „stirbe ich auf dieser Reise […]“ festgehalten wird.[2] Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass er vor seiner Abfahrt gen Paris im Jahr 1812 kein neues Testament verfasste. Ausgerechnet bei seiner wohl weitesten Reise scheint er keinen Anlass zu einer Willenserklärung gesehen zu haben. Dies ist vor allem daher verwunderlich, weil zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner nun rund 30 Jahre alten Verfügung seine Familie allein erbberechtigt gewesen wäre. Dabei hatte er sich spätestens seit 1807 mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass sein Neffe und Patensohn nicht als Nachfolger und Erbe in Frage kam. Wallraf stand 1812 deshalb längst in Verhandlungen mit der Stadt um eine Übernahme seiner Sammlung, die durch ihren erheblichen Zuwachs gerade im Bereich der Kunstgegenstände eine unbestreitbare Relevanz erhalten hatte. Kurzum: Dass Wallraf zu diesem Zeitpunkt keine Neuregelung seines Nachlasses vorgenommen hat, scheint aus heutiger Sicht recht unverständlich. Andererseits ist die Überlieferung zu Wallrafs Parisaufenthalt so spärlich, dass nicht auszuschließen ist, dass Wallraf durchaus testamentarische Aufzeichnungen verfasst hat, die jedoch verloren gegangen sind.

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Vor allem durch den Bezug zur Sammlung unterscheidet sich die erste letztwillige Erklärung deutlich von ihren Nachfolgern. Wie erwähnt existierte die Sammlung Wallrafs im Jahr 1783 nur in ihren Grundzügen, nämlich vor allem in Form des Naturalien- und Mineralienkabinetts und seiner Lehrbibliothek, die er vermutlich auch selbst noch nicht als so bedeutsam erachtete, dass es detaillierter Ausführungen zu ihrem Fortbestand bedurft hätte. Immerhin war er zeitweise sogar bereit, diese separat zu veräußern. Ganz anders gestaltet sich der Fall 33 Jahre später: Mit der französischen Herrschaft seit den 1790er Jahren und dem damit entfachten Drang, die Kunst- und Kulturgestände – respektive die Geschichte und das kulturelle Erbe Kölns – zu bewahren und vor Verkauf oder Zerstörung zu retten, war die Sammlung um mehrere 10.000 Objekte unterschiedlichster Couleur angewachsen. Vermutlich in der Nacht vor seiner Abreise nach Göttingen sah Wallraf sich offenbar gedrängt, eine neue letztwillige Verfügung auszuarbeiten.

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Mag der Anlass durch die Reisepläne ähnlich gewesen sein, so ist der Inhalt doch ein völlig anderer, auch weil Wallraf 1816 deutlich noch unter dem Eindruck der Erpressung durch seinen Neffen stand, die in einen unschönen Prozess gemündet hatte und die Hoffnungen auf den vormals angedachten Erben und Nachfolger vollends hatte erlöschen lassen. Nachdem Wallraf zehn Jahre lang erfolglos und kompliziert mit der Stadt Köln – und nach 1814 teilweise sogar parallel auch mit dem preußischen Staat – über eine Übertragung oder den Ankauf der Sammlung verhandelt hatte, setzte er schließlich seine Heimatstadt nach dem endgültigen Bruch mit seiner Familie als Erbin ein. Eine finanzielle Gegenleistung in Form einer Pension kommt dabei noch nicht zur Sprache. Trotz aller familiären Konflikte und ausdrucksstarken Rechtfertigungen seiner Entscheidung fühlte Wallraf sich verpflichtet, für das Auskommen seiner Verwandten zu sorgen.

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Das Hauptaugenmerk des Testaments liegt aber eindeutig auf der Unterbringung der Sammlung im Jesuitenkolleg und den Angaben zu Umfang und Wert der einzelnen Sammlungsbestandteile. Es ist daher möglich, dieses Schriftstück als eine erste und ebenso grobe wie skizzenhafte Vorstufe des Inventars zu lesen, das erst 1817 in einem für die Verhandlungspartner zufriedenstellenden Maße und mit der Hilfe verschiedener Unterstützer abgeschlossen werden konnte. Das Dokument gibt somit einen Einblick in die komplizierten Inventarisierungsarbeiten und illustriert zugleich Wallrafs omnipräsenten Wunsch, die Sammlungen öffentlich nutzbar zu machen. Die Vorstellungen zur Präsentation zeigen, dass sich die Ausrichtung nun von einer Nutzung im Unterricht weg- und vielmehr zu einer Art musealen Inszenierung hinbewegt hatte. In formaler Hinsicht erhält das Dokument durch die Aufzählung einzelner Objekte auch den Anschein eines klassischen „Inventar-Testaments“ wie es noch in der Frühen Neuzeit üblich gewesen war. Im Gegensatz zum ersten und letzten Testament ist es nie offiziell ausgefertigt worden, und wäre doch durch die eigenhändige Ausführung gültig gewesen. Dass es nicht wirklich umgesetzt werden musste, hat der Nachlasskommission viel Mühe erspart, bedenkt man die komplizierte Textform und die fragmentarischen, unsystematischen Forderungen Wallrafs.

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Die Stadt als seine Erbin bestätigte Wallraf mit seinem bekanntesten und letztgültigen Testament aus dem Jahr 1818. Es ist wesentlich kürzer als sein Vorgänger und beschränkt sich neben der Versorgung seiner Familie in relativ knappen Worten auf die Übertragung der Sammlung an Wallrafs Heimatstadt. Es enthält keine komplizierten Aufzählungen einzelner Sammlungsbestände oder Festlegungen zu ihrer möglichen Präsentation – die konzeptionellen Arbeiten an einem Verzeichnis scheinen für Wallraf vielmehr abgeschlossen zu sein, auch wenn erst die Tätigkeiten der Nachlasskommission nach 1824 zu einer wirklichen Ordnung und Überführung in ein museales Präsentationskonzept geführt haben. In Aufbau und Form nähert sich das dritte, feierlich durch die Schenkungsannahme bestätigte Testament dem „ersten letzten Willen“ Wallrafs von 1783 an – auch durch den notariellen Vorgang, in den es eingebettet ist. Das zweite Testament erscheint im Vergleich dazu beinahe als eine Art emotionalisierte Vorstudie, in der sich der mehrfach geäußerte Gedanke einer Übertragung an die Stadt im Denk- und Schreibprozess manifestierte.

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Folgen alle drei Testamente unterschiedlichen Wegen, den letzten Willen in eine gültige Form zu gießen, und offenbaren deutlich voneinander abweichende Schwerpunktsetzungen, so begegnet der Nachwelt auch jeweils ein anderer Wallraf: 1783 verfasst ein junger und möglicherweise unsicherer Universitätslehrer, der sich mitten in einer Aufstiegsphase seiner Karriere und noch nicht in einer stabilen Position befindet, seinen überaus formalisierten letzten Willen. Keine persönlichen Details deuten auf Wallrafs spätere Sammelleidenschaft oder individuelle Vorstellungen – vielmehr erfüllte hier ein frommer Bürger bzw. Geistlicher aus Sicherheitsgründen seine Pflicht, für den Falle des Todes seine Angelegenheiten geregelt zu haben. Im zweiten Testament äußert sich demgegenüber der gereifte Sammler, der in seiner öffentlichen Laufbahn einerseits vielfältige Höhepunkte (seine Professuren ab 1784, die Wahl zum Rektor 1793, die spätere allgemeine Anerkennung als Gestalter und Repräsentant Kölns) andererseits aber auch Einschnitte (die Streitigkeiten mit den traditionellen Vertretern des Bildungswesens, die Absetzung als Rektor und die Auflösung der Kölner Kirchen- und Kunstschätze im Zuge der Säkularisation) erlebt hat. Deutlich zeigt er sein Ringen um die Sicherung seines Vermächtnisses und seine Verärgerung über die familiären Konflikte, äußert aber auch selbstkritische Zwischentöne und versucht, sein Handeln gegen Kritiker zu rechtfertigen. Im dritten Testament sind diese aufgewühlten Gedanken deutlich geglättet und harmonisiert: Wallraf kann als Stifter auftreten, der in Ruhe und mit gewisser Genugtuung die Bedingungen seiner Schenkung regelt und diese erfolgreich in die Hände einer fähigen Kommission übergibt.

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Die Wahrnehmung Wallrafs beschränkt sich zumeist in diesem Sinne auf den großen Sammler und Wohltäter, der sich allein seiner „geliebten Vaterstadt“ und der Bewahrung der kölnischen Geschichte verpflichtet fühlte. Zieht man aber die Quellen zu seiner Familie und den Entstehungsprozess seines allerletzten Willens mit ein, so ist diese Perspektive zu kurz gegriffen. Selbstverständlich steht außer Frage, dass Wallraf seine Sammlung der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen wollte – als Grundstock eines Museums und einer neu zu errichtenden Universität. Wohl bis ins Jahr 1816 verfolgte er aber gleichzeitig das Ziel, die Sammlung im Familienbesitz zu belassen, auch wenn er sich im Lauf der Zeit damit abfinden musste, dass unter seinen Angehörigen kein würdiger Nachfolger – kein neuer Wallraf – zu finden war. Wie man an den Formulierungen in Wallrafs zweitem Testament ablesen kann, wurde die Betrachtung des „rettenden“ und unter vielen Entbehrungen seine Interessen zugunsten der Kölner Öffentlichkeit zurückstellenden Wallraf nicht zuletzt auch durch seine Selbstsicht mit festgeschrieben. Eine vergleichende und die Kontexte einbeziehende Untersuchung der unterschiedlichen Testamente hilft dabei, die Unwägbarkeiten und Unübersichtlichkeiten des langen Prozesses angemessen zu berücksichtigen, die Wallraf erst zu dem bis heute als „Erzbürger“ gefeierten Kulturförderer machten.


Anmerkungen

[1] Vgl. dazu etwa die Einschätzung bei Joachim Deeters zur Universitätsdenkschrift Wallrafs. Deeters zieht dabei die Bilanz, es sei Wallraf „auch in jüngeren Jahren nie gelungen, ein Thema gründlich, systematisch und erschöpfend zu behandeln.“ Joachim Deeters (Bearb.), Ferdinand Franz Wallraf. Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln vom 5. Dezember 1974 bis 31. Januar 1975, Köln 1974, S. 75.

[2] HAStK, Best. 1105 (Ferdinand Franz Wallraf), A 27 (Letztwillige Verfügungen), fol. 22r.

Empfohlene Zitierweise
Elisabeth Schläwe / Sebastian Schlinkheider, Dreimal letzter Wille – Wallrafs Testamente im Resümee, aus: Dies., Letzter Wille mit großer Wirkung – Die Testamente Ferdinand Franz Wallrafs (1748–1824) (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00003), in: mapublishing, 2018, Seitentitel: Fazit: Dreimal letzter Wille (Datum des letzten Besuchs).